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LADY DREADNOUGHT

Seit ich das erste Mal "Harold & Maude" gesehen hatte, fand ich den Gedanken, einen Leichenwagen zu fahren, auf morbide Art anziehend. Als ich Jahre später in Atlanta/Georgia einer Beerdigungsprozession zuschauen durfte, war ich von der Größe und eindrucksvollen Erscheinung der amerikanischen "Funeral Vehicles" tief beeindruckt. Dennoch bedurfte es einer mehr zufälligen Internet-Bekanntschaft, um mein Interesse an diesen Fahrzeugen richtig zu entfachen. Dennoch hatte ich zunächst kein Interesse daran, selbst ein solches Gefährt zu besitzen.

Das änderte sich, als ich im November 2000 bei meinen Internet-Streifzügen über das Angebot eines 1969 Cadillac Hearse stolperte. An diesem Wagen sprachen mich vor allem die "Suicide Doors" und die für Leichenwagen doch eher ungewöhnliche Farbe "Dark Purple" an. Da der Verkauf nicht vom Verkäufer selbst, sondern über einen Mittelsmann abgewickelt werden sollte, zog sich die Beantwortung einiger mir wichtiger Fragen doch sehr in die Länge. In der Zwischenzeit hatte ich aber Gelegenheit zu prüfen, ob ich für ein derartiges Fahrzeug überhaupt eine deutsche Zulassung zu tragbaren Konditionen bekommen könnte. Daneben mußte ich mir Gedanken über die Unterbringung dieses Monstrums machen. Dabei kam mir jedoch ein Zufall zu Hilfe, mit dem dieses Problem zumindest vorerst gelöst zu sein scheint. Im März 2001nahm ich das Wagnis auf mich, für ein Auto, das ich nur von eher mäßigen Fotos her kannte, mehrere tausend Dollar an den Verkäufer zu überweisen.

Kurze Zeit später erhielt ich vom Verkäufer einen Brief mit dem amerikanischen "Title" und einem Satz Autoschlüsseln. Damit stand fest: ich muß nach Florida und den Wagen übernehmen.

1.Mai 2001: Ich hatte mit dem Verkäufer ausgemacht, mich mit dem Leichenwagen am Flughafen von Fort Myers abzuholen. Er hatte sich selbst als eine kurze, runde Ausgabe von Ernest Hemingway beschrieben. Nach meiner nächtlichen Ankunft hielt ich fleißig Ausschau im Flughafengebäude - nirgends ein Hemingway-kompatibler Mensch in Sicht. Also Anruf - keiner da. Na gut, der Wagen sollte sich doch finden lassen. Und tatsächlich, im Schein einer Laterne wartete mein Schlachtschiff auf dem Flughafenparkplatz. Gleich mal Fotos machen, um den ersten Eindruck festzuhalten. Im Wagen fand ich dann eine Entschuldigung des Verkäufers, daß er nicht persönlich anwesend sein konnte. Den zweiten Satz seines Schreibens fand ich nicht so gut "It [the hearse] seems to run ok, but the brakes need work". So hatten wir nicht gewettet: im Angebot stand "good running condition"; aber tatsächlich war von Bremsen nie die Rede gewesen... Daß die Scheibenwaschanlage nicht funktionierte, teilte er mir auch mit, der Rest waren durchaus brauchbare Hinweise wie "The horn is in the rim of the steering wheel." Ich hupe nicht sehr oft, aber es ist doch gut zu wissen, wo genau man drücken muß. Gewisse Schwierigkeiten mit den Türschlössern mußte ich noch überwinden. Der Tank war voll, der Wagen sprang an, es konnte also losgehen - vorsichtig natürlich, den der Wagen war doch ungewöhnlich lang, die Sicht nach hinten fast Null und die Bremsen funktionierten tatsächlich höchst widerwillig. Trotzdem gelangte ich ohne größere Schwierigkeiten in das im voraus gebuchte Motel. Dort wurde ich auch umgehend von einer nicht mehr ganz taufrischen Dame zu meinem Fahrzeug befragt. Sie bot mir auch gleich "weibliche Gesellschaft" an, doch nach einem "working girl" stand mir wirklich nicht der Sinn, und so fiel ich erschöpft alleine ins Bett.

2.Mai: Mein Leichenwagen bei Tageslicht! "Needs a new paint job and has some minor surface rust", hatte es geheißen. Stimmt. Aber Durchrostungen fand ich immerhin keine. Die schönen Weißwandreifen hatten zwar noch ein gutes Profil, aber die Laufflächen waren von tiefen Rissen durchzogen. Damit wollte ich nicht mehr allzu weit fahren, angesichts der beträchtlichen Menge von Reifen-Überresten auf den amerikanischen Highways. Nun gut, zunächst mal die wichtigsten Punkte zuerst - die Bremsen. Im Wagen hatte ich die Rechnung eines Mechanikers in Venice, dem Wohnort des Verkäufers, gefunden. "Der kennt das Auto, das ist der richtige Mann" dachte ich und fuhr los. Als ich ihn und seine doch eher mäßige Begeisterung beim Anblick meines Wagens sah, kamen erste Zweifel. Als er dann noch sagte "Nicht vor übermorgen", war klar - der nicht! Ich fuhr weiter und legte bei einem "Walgreen's" Drugstore eine Pause ein. Als ich weiterfahren wollte, gab der Anlasser sein Bestes - aber der Motor sprang nicht an. Auch ein im Fahrzeug vorhandenes Anlasser-Spray brachte nichts. Irgendwelches Werkzeug hatte ich nicht dabei, da mein vorsorglich auf die Adresse des Autoverkäufers bestelltes "Metrinch"-Toolkit leider nicht rechtzeitig eingetroffen war. Mein Schweizer Taschenmesser und mein technisches Wissen stießen hier an ihre Grenzen. Am Benzin konnte es auch nicht liegen, es war noch etwas drin. Moment mal, 80 km gefahren, der 65-Liter-Tank fast leer: macht ca. 75 l/100km. Der genannte Verbrauch von ca. 20 l/100km war mir schon verdächtig gering vorgekommen, aber 75 Liter war ja wohl doch etwas arg heftig. Also zwei "big problems", dazu noch die Reifen.

Zunächst ging ich erst mal auf die Suche nach einem Mechaniker; die nächste Tankstelle nannte mir zwei Betriebe, die sich aber doch mehr auf Reifen und Bremsen spezialisiert hatten und mir auch keinen Mechaniker mitgeben wollten. Da entdeckte ich eine kleine Werkstatt mit einem Cadillac auf der Hebebühne und mehreren nicht allzu neuen Gebrauchtwagen davor - das sah gut aus. Mike, ein cleverer und sehr geschäftstüchtiger junger Mann, bekräftigte, daß ich mit seiner Firma und Mechaniker Dave die absoluten Oldtimer-Spezialisten mit über 20-jähriger Erfahrung entdeckt hätte. Ein Abschleppwagen würde umgehend verständigt, man würde sich bald wieder auf dem Firmengelände sehen. Also ging ich zu meinem Leichenwagen zurück.

"We don't want your hands, we don't want your feet, all we want is your tows" stand an der Seite des Abschleppwagens, der knapp eine Stunde später meinen Cadillac zur Werkstatt schleppte. Netterweise fuhr mich dann der Mechaniker nach einer ersten Inspektion meiner Auto-Leiche in ein Motel. Von dort aus rief ich den inzwischen wieder anwesenden Verkäufer des Wagens an, erzählte ihm von meinen Problemen und verabredete mich mit ihm zu einem "Happy Hour"-Drink. "Hemingway lebt!" dachte ich, als ich meinen Geschäftspartner wie vereinbart traf. Er bedauerte meine Schwierigkeiten, tröstete mich mit dem Hinweis auf den geradezu lächerlich geringen Kaufpreis, erzählte mir aus der Geschichte des Wagens und wies mich auf diverse "Geheimfächer" und andere Merkmale des Cadillac hin. Wir trennten uns fast freundschaftlich.

Ein Schock erwartete mich am nächsten Tag: der Kostenvoranschlag. Was alles auszutauschen war, paßte kaum auf das eng beschriebene Blatt; die Endsumme würde den Anschaffungspreis meines Wagens praktisch vereineinhalbfachen. Aber hatte ich nicht sowieso mit größeren Reparaturen gerechnet? Sie hier im "Cadillac-Country" machen zu lassen, würde mich wahrscheinlich billiger kommen. Also noch etwas den Preis heruntergehandelt, dann den Auftrag erteilt. Das Geld wollten sie im voraus, bitte in bar, ihre Händlervereinigung würde ihnen bei Kreditkartenzahlung über 20% einbehalten! Etwas ungläubig und im Verdacht, in die Fänge einer Mafia-Zweigstelle geraten zu sein, besorgte ich den verlangten Geldbetrag sowie einen Mietwagen.

Damit trat mein Plan B, die Reise über Tallahassee nach New Orleans und Charleston SC nicht im eigenen Auto anzutreten, in Kraft. Nach wehmütigem Abschiednehmen von dem bereits liebgewonnenen Gefährt und der Beschwörung der Mechaniker, keinen Unsinn damit zu machen, brach ich auf. Bei Ocala besuchte ich, bereits zum zweiten Mal, "Silver Springs" und war wieder begeistert. In Tallahassee wurde ich gastfreundlich von Exil-Deutschen empfangen und untergebracht; die USS Alabama wurde besichtigt; in New Orleans nahm ich an einer Schaufelraddampferfahrt auf dem Mississippi und an einer Führung zu den Spukhäusern der Stadt teil; die beiden ältesten Friedhöfe der Stadt erkundete ich auf eigene Faust. Dann weiter über Columbia nach Charleston, South Carolina. Zwei erholsame Übernachtungen bei der netten Familie eines amerikanischen Freundes, dann Zehn-Stunden-Fahrt zurück nach Venice.

14.Mai: Zehn Uhr beim Mechaniker - "Der Wagen ist noch nicht fertig, drei Stunden brauchen wir noch". Nach dreizehn Uhr darf ich meinen Wagen bewundern: der Motor sieht fast wie neu aus, er wurde sandgestrahlt und lackiert, und er läuft wieder! Die Reifen sind eine Enttäuschung: keine Weißwandreifen mehr, sondern nur weiß hervorgehobene Hersteller- und Typenbezeichnungen. Ich tröste mich damit, daß das zumindst während der Fahrt Weißwandreifen ähnelt. Eine neue Bremsleitung ist auch eingebaut worden, der Mechaniker hat angeblich vierzig Stunden an meinem Wagen gearbeitet und will finanziellen Nachschlag. Wir diskutieren und einigen uns schließlich, danach bekommt meine von den Toten auferstandene Leiche noch eine Katzenwäsche, dann geht es los am Lake Okeechobee vorbei nach Fort Lauderdale, von wo aus die Verschiffung erfolgen soll. Mein Mechaniker hatte mir eine bessere "Mileage" versprochen, und das hat er gehalten. Ca. 1 1/3 Tankfüllungen bringen mich zu meinem "Shipping Agent", wo ich nett, kompetent und zügig in Deutsch abgefertigt werde.

Seither warte ich sehnsüchtig auf die Ankunft meines Cadillac in Bremerhaven. Nach unseren ersten Abenteuern habe ich meine Leiche, angesichts unserer beider Furchtlosigkeit und ihrer Schlachtschiff-artigen Ausmaße liebevoll "Lady Dreadnought" getauft.

Gordon Wall

Fotos gibt es übrigens hier zu sehen


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Letzter Update: 02 Januar 2011